»Der Blick fällt auf seine Schuhspitzen, die wie immer frisch poliert glänzen und mit dem scheinbar neu verlegten Linoleumbelag der riesigen Wartehalle um die Wette spiegeln. Ein seltsamer Geruch von Bohnerwachs, Schweiß und Misserfolg schwebt über den Wartenden, die wie angewurzelt auf den an der Wand befestigten Klappstühlen verharren. Eine überwältigende Stimmung der Resignation schnürrt ihm fast die Kehle zu, als sein Blick die LED-Anzeige der Nummernanlage streift.
»763 bitte in Raum 16!«, fordert eine blechern klingende Stimme eindringlich und bestimmend auf ...«

Marlen Albertini kratzt mit ihrem neuen Roman an den gesellschaftlichen Fassaden und bietet vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise seit 2008 szenische Einblicke in die Welt der Zocker, Blender, Verlierer und Gescheiterten ...

© 2020 Marlen Albertini

Die Autorin

Marlen Albertini ist gelernte Journalistin, Publizistin und Buchautorin und befasst sich schwerpunktmäßig mit den Themen Politik, Wirtschaft und Soziales, sowie Bürger- und Menschenrechte.

Seit 1994 arbeitet sie als freie Journalistin und Redakteurin für verschiedene Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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Auszug aus „Crash im Auftakt“

[…] Auf der Treppe nimmt Lakin gleich drei Stufen auf einmal. Er fühlt sich beschwingt und erholt, und freut sich darauf, in wenigen Minuten wieder die große Welt des Aktienhandels zu bewegen. Längst ist er nicht mehr nur Stadtrat und aufstrebender Elite-Politiker, sondern auch Vermögensberater. Besser gesagt hält er sich für einen genialen Broker und verfügt inzwischen über 30 finanzstarke Kunden, die täglich seine Tipps erwarten.

Wie es sich für einen gestandenen Börsenhändler gehört, ist sein Schreibtisch mit vier nagelneuen 24-Zoll-Flachbildschirmen ausstaffiert. So hat er die Aktienlage jederzeit bestens im Blick. Allzu viel benötigt er nicht, um seinen zusätzlichen, äußerst lukrativen Job zu machen. Neben den PCs verfügt er über einen schnellen Internet-Anschluss. Ein Vertrag mit seiner Hausbank ist auch unter Dach und Fach. Das genügt vollkommen, um an glücklichen Tagen gigantische Gewinne zu generieren. Zusätzlich fluten aus den Beratertätigkeiten nur so die dicken Provisionen herein. Bisher hat Lakin mit seinen Vorhersagen stets großes Glück. Fortuna ist auf seiner Seite.
Ausgesucht elitäre und äußerst finanzkräftige Kunden profitieren derzeit besonders von seinen Wetten auf den Fall des amerikanischen Dollars. Lakin hat diesen Tipp aus tiefster Überzeugung breit gestreut. So sind aktuell unvorstellbar hohe Summen im Spiel. Auch er selbst hat das halbe Vermögen auf diesen Trend gesetzt. Getreu dem Motto: Barfuß oder Lackschuh, alles oder nichts! Auch Billie, sein hübsches Gspusi, hat ihm Hab und Gut anvertraut, hängt tief mit drin im Wettgeschäft auf den US-amerikanischen Dollar. Wie alle hofft sie nun auf den satten Profit.

Schnell schiebt sich Lakin ein Stück Pizza in den Mund, die Lydia, seine Angetraute, ihm liebevoll zubereitet hat. Dann setzt er sich vor die Monitore und checkt simultan diverse Aktienkurse. Vor vielen Jahren einmal hat er an einem Equity Graduate Programm teilgenommen und später sogar noch ein Global Equities draufgelegt. Seither fühlt er sich in den Bereichen Handel, Research und Sales so sicher wie ein Akrobat auf dem Hochseil im Zirkus. Lakin liebt vor allem das Risiko. Darauf ist sein gesamtes Leben aufgebaut. Wenn er vor den Monitoren sitzt und »seine« Aktienwerte klettern, steigt gleichzeitig auch sein Adrenalin-Spiegel an. Ein sagenhaft wohliges Gefühl hüllt ihn dann in eine Stimulation aus Macht und Siegeslust. Im Grunde betrifft dies alle Bereiche. Sein ganzes Leben ist eine Börse, bisher stets auf Erfolg gepolt. Seit Beginn dieser Tätigkeit empfindet sich Lakin im Börsenmetier als Voll-Profi. Auch wenn er seine Brokertätigkeit via Home-Office managt, führt er dennoch alle relevanten Optionen, die für diesen Job erforderlich sind, professionell aus. Pausenlos analysiert er wirtschaftliche Faktoren und fügt sie wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen. Wirtschaft und psychologische Einflüsse spielen die Rolle schlechthin am Aktienmarkt, und deren Trends frühzeitig zu erkennen ist Lakins Geschäft.

Der Aktienmarkt mit seinen maßlosen Spekulationen hat die Realwirtschaft inzwischen deutlich überlagert. Wie die Mehrheit der Finanzakteure vergisst Lakin, dass letztlich reale Ergebnisse der Wirtschaft zählen. Noch aber gehen seine absurden und ungezügelten Strategien auf. Getrieben von grenzenloser Gier stürzen sich Investoren zur Freude Lakins reihenweise auf die von ihm heiß empfohlenen Finanzprodukte. So unverständlich diese auch sein mögen, gehen sie doch trotzdem weg wie warme Semmeln, ja sie werden ihm förmlich aus der Hand gerissen. Wer den Trend setzt, frühzeitig auf- und rechtzeitig wieder abspringt, erzielt die meisten Gewinne.

Lakin ist Initiator und Trendsetter zugleich, bekannt für sein Spürnäschen. Den Kulminationspunkt seiner Wahnsinnsgeschäfte, ab dem ein plötzlicher Abstieg überraschend schnell einsetzt, kennt natürlich weder Lakin noch irgendein anderer Anlageberater. Lakin denkt auch nicht so weit, denn das Geschäft brummt augenblicklich prächtig. Wie auch jetzt, denn inzwischen klingelt das Telefon beinahe pausenlos. Seine Tipps sind gefragt. Er bestimmt, wann sich eine Beteiligung lohnt und an welcher Stelle nicht. Der Rest besteht aus der Hoffnung, dass er am Ende Recht behält. Lakin führt einen erfolgreichen Bullenmarkt. Da stehen die Sterne auf Hausse. Mit Landwirtschaft hat das natürlich nichts zu tun. Der Bulle ist das Wahrzeichen der Börse und steht für Optimismus. Es wird gekauft in der Hoffnung auf einen rasanten Aufschwung am Aktienmarkt. Was einmal passiert, wenn sich der anhaltende Boom in einen Crash verwandelt, bedenkt Lakin erst, wenn es so weit ist. Bis dahin wird gescheffelt, dass sich die Balken biegen. Gewinne werden sofort reinvestiert. Und zwar in vermeintlich todsichere Aktien. Die nämlich hält jede Menge Blueman & Sun-Pakete bereit und gibt diese an ihre Kunden weiter. Das sind Fonds einer großen, weltweit agierenden und hoch anerkannten US-amerikanischen Bank, und die gelten als überaus gewinnbringende Anlage.

Kürzlich hat sich Lakin entschlossen, auch den Bärenmarkt zu erschließen. Eine gezielte Baisse sozusagen, denn der Bär steht für fallende Kurse am Aktienmarkt. Das war auch der Moment, als er allen Geschäftspartnern, Freunden und Verwandten die Wettgeschäfte auf den fallenden amerikanischen Dollar empfahl. Und weil Lakin aus seiner höchst eigenen Sicht ein besonders cleverer Anlageberater ist, zählt er das Kombinationsgeschäft der Wette auf den fallenden Dollar zusammen mit den angepriesenen Blueman & Sun-Aktien geradezu für einen extraordinären Genie-Streich. Alle 30 Geschäftspartner sind auf den schwankenden Zug aufgesprungen. Auch Verwandte, Freunde und Bekannte zählen zum Trupp der hoffnungsvollen Spekulanten. Lakin träumt einen Moment und sieht in Gedanken haushoch gestapelte Euroscheine, die sich dekorativ auf seinem Bürotisch türmen. Er ist sich seiner Sache so sicher, dass er sogar die eigene Haushälterin und seine Putzfrau dazu angehalten hat, ein ganzes Gehalt in diesen Tipp zu investieren. Auch der getreue Gärtner ist seiner Empfehlung gefolgt, und der Chauffeur ist überzeugt, in seinem Chef den Mann gefunden zu haben, der ihm die Sterne vom Finanzhimmel holt.

Schnell erwacht Lakin aus seinem Sekundentraum von der sagenhaften Geldanhäufung und krempelt hastig die sorgsam gebügelten Ärmel seines Designerhemdes hoch. Warm ist es in den Büroräumen unter dem Dach geworden. Eine drückende Schwüle beherrscht den Raum. Er muss sich auf seine ungedeckten Leerverkäufe konzentrieren. Die setzt er gerade im ganz großen Stil auf den sinkenden Kurs von Wertpapieren, die er überhaupt nicht besitzt. Die dahingehende Gesetzgebung ist äußerst liberal ausgelegt. Investoren können sich in Hinblick auf mögliche Zahlungsausfälle versichern lassen. Dafür müssen sie nicht einmal im Besitz einer Forderung sein. Solch erfreuliche Rahmenbedingungen heizen den spekulativen Derivate-Markt kräftig an und führen nicht selten zu Pleiten ganzer Volkswirtschaften. Lakin sieht augenblicklich jedoch nur die Vorteile. Er und die Anhänger seiner Thesen sollen ordentlich von den interessanten Cross Currency Swaps profitieren, welche Lakin aktuell besonders empfiehlt. Diese speziellen Derivate werden gezielt für Spekulationen auf die Bonität von Staaten eingesetzt. Die Hoffnung zielt auf steigende Ängste vor einem Staatsbankrott. Dann nämlich, wenn diese Vorhersage eintrifft, fällt der Gewinn umso höher aus. Glücklicherweise sind die Verträge auf fünf Jahre ausgelegt. Denn jetzt, im ersten Jahr, zeichnen sich herbe Verluste ab. Die aber werden in den kommenden Jahren sicher aufgefangen, beruhigt sich Lakin und kommt sich nun doch ein wenig leichtfüßig vor.

Ein erneutes, eindringliches Telefonklingeln schreckt ihn aus seinen Gedanken hoch. Schnell nimmt er das Gespräch an. Es ist Billie. Sie erkundigt sich nach dem Stand der Dinge. Für Lakin scheint der im Moment geradezu perfekt, was er zum Ausdruck bringt.
»Billie-Maus, ich bin schwer beschäftigt, aber es sieht alles bestens aus«, teilt er aufgedreht und halbwegs überzeugt mit.
»Warum werde ich dann von der Bank aufgefordert, unverzüglich 100.000 Euro Eigenkapital nachzuschießen, andernfalls wird der gesamte Vertrag gekündigt, und das investierte Geld ist weg?« Billies ansonsten samtweiche Stimme kommt schrill und eindringlich, ja fast ein wenig hysterisch daher. Das kennt Lakin so nicht von ihr und bekommt es nun doch mit der Angst zu tun.
»Nun beruhige dich, Billie-Maus. Ein Verlust im ersten Jahr ist ganz normal. Den holst du in der noch folgenden Vertragslaufzeit locker wieder herein. Die Bank will nur auf der sicheren Seite sein. Du solltest das Geld schnellstens einzahlen. Der Gewinn kommt schon noch.«
Lakins sündhaft teures Designerhemd hat zwischenzeitlich die ursprünglich elegante Passform und den seidigen Glanz verloren und klebt nun wie eine Wurstpelle an seinem verschwitzten Körper. Die Hitze im Dachgeschoss wird unerträglich, und Lakin ist schlagartig bewusst, dass auch er in Kürze nachzahlen muss. So, wie seine 30 Beratungskunden, Verwandten, Bekannten und Freunde. Nicht zu vergessen die Haushälterin, die Putzfrau, der Gärtner und der Chauffeur. Er spürt, wie sich kleine Schweißperlen auf der Stirn bilden, und ihm wird flau in der Magengegend.
»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich da noch etwas reinstecken kann? Ich habe doch bereits alles investiert. Wo soll ich denn 100.000 Euro herholen, Georg? Aus dem Nichts? Es gibt keine Reserven mehr. Du hast von todsicheren Wetten gesprochen.« Billie ist außer sich vor Wut, und Lakin sucht nach handfesten Erklärungen.
»Billie-Maus, so hör doch! Im ersten Anlagejahr kann das passieren. Das lässt sich in den nächsten Intervallen easy wieder reinholen. Der Vertrag ist doch auf fünf Jahre ausgelegt.« Georg von Lakin tupft sich mit einem edel bestickten und Monogramm versehenen Taschentuch die Stirn. Seine Hände zittern, und dem ansonsten so abgeklärten Politik- und Finanzjongleur ist reichlich mulmig zumute.
»Wie konnte das passieren? Wieso hast du mich nicht richtig aufgeklärt, Georg? Ich bin sozusagen pleite und muss mein Haus verkaufen, wenn ich über die Runden kommen will. Sag endlich etwas dazu, Georg!« Der Stimme nach zu urteilen scheint Dr. Sybille Aingsbacher einem Nervenzusammenbruch nahe. Lakin sieht sich genötigt, nähere Erklärungen abzugeben und versucht, Licht in Billies Dunkel zu bringen.
»Also, Billie, wenn es zu Kurseinbußen kommt, wie jetzt bereits im ersten Jahr deiner Investition, dann werden diese Verluste mit der Restlaufzeit in Jahren multipliziert. Die Fachwelt nennt das hebeln. In deinem Fall bedeutet dies konkret, dass der Verlust von 20.000 Euro, den du gerade im ersten Jahr gemacht hast, mit fünf multipliziert wird. Die Bank darf zur Absicherung des Verlustes nun frisches Eigenkapital von dir verlangen. Ansonsten kann sie deinen Vertrag einseitig und vorzeitig beenden.«
Lakin lässt sich in seinen hochmodernen Bürostuhl fallen, der sich einen Moment lang um sich selbst dreht. Am anderen Ende der Leitung wird es gefährlich still. Nach einer Pause, die Lakin wie eine Ewigkeit erscheint, meldet sich Billie zurück. Ihre buchstäbliche Contenance und kühle Besonnenheit, die sie auf dem politischen Parkett zu einer geschätzten Beraterin macht, hat sie schnell zurückgewonnen.
»Diese Fakten hast du mir verschwiegen, Georg. Mit anderen Worten habe ich es jetzt nicht nur mit einem Kursverlust zu tun, sondern dem Risiko des Totalverlustes, wenn ich nicht unverzüglich zahle. Und wo das im nächsten, übernächsten und allen weiteren Jahren noch hinführt, steht auch in den Sternen. All dies hast du gewusst!«

Dr. Sybille Aingsbacher erwartet eigentlich keine Antwort mehr. Als kühl operierende Persönlichkeit ist ihr klar, dass sie schlichtweg auf den smarten, sehr attraktiven Lakin hereingefallen ist. Das muss ausgerechnet ihr passieren, die ansonsten als personifizierte Korrektheit von Politik und Gesellschaft höchstes Ansehen genießt. Billie ist allerdings nicht umsonst die bekannte Dr. Sybille Aingsbacher. Sie hat sich komplett im Griff und verfügt über die Fähigkeit disziplinierter Selbstbeherrschung. Zudem kann sie Fehler und eigenes Versagen eingestehen sowie in rasender Geschwindigkeit Konsequenzen ziehen. Etwas, woran es Lakin in höchstem Maße mangelt.
»Hör gut zu, was ich dir sage, Lakin. Und ich sage es nur einmal und unwiderruflich.« Sie nennt ihn nun abschätzig beim Nachnamen und fährt mit eisiger Stimme fort: »Wir sind ab sofort getrennte Leute. Eine Anzeige ist dir sicher, und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dich beruflich zu vernichten«.
Billies Stimme klingt bestimmend und kompromisslos. Lakin weiß, dass er dieses Spiel verloren hat. Ein Spiel ist so viel wie kein Spiel, denkt er selbstgefällig und wendet sich wieder den Monitoren zu. Es rollt eine Lawine auf ihn zu. Dass es ein Tsunami sein wird, ahnt er in diesem Moment noch nicht.

© 2020 Marlen Albertini

Protagonisten

Georg von Lakin Romanfigur und Hautdarsteller
Ferdinand Trompt Fallmanager der Arbeitsagentur
Dr. Wilhelm Kaulmann Ministerpräsident
Lydia von Lakin Ehefrau von Georg von Lakin
Annegret Buchheimer Sekretärin von Dr. Wilhem Kaulmann
Dr. Sybille Aingsbacher Politikberaterin und Geliebte von Georg von Lakin
Randolf Schweigmann Chefredakteuer des Bad Schlirnauer Tageblatt
Frank Blomberg Büroleiter von Dr. Wilhelm Kaulmann
Friedrich Blumenau UN-Sekretär in Brüssel
Dr. Bruno Hagemann Leitender Staatsanwalt
Dr. Friedemann Sonnenberg Gewerkschaftsboss
Karl Kemper Maßnahmeleiter der Arbeitsagentur
Ottto Schmeisel Lakins Arbeitskumpel in der Maßnahme „Kolonne 11“
Gregor MacAllison Richter am Landgericht

© 2020 Marlen Albertini